Illusion Willensfreiheit

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Warum die Physik zum Freien Willen besser schweigen sollte – What?

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Für Florian Aigner, Physiker und Wissenschaftsjournalist, ist das mit dem freien Willen eine ganz einfache Sache. In: Der Zufall, das Universum und Du schreibt er:

„Es mag schon sein, dass der freie Wille auf der Aktivität unserer Nervenzellen beruht, und dass diese Nervenzellaktivität nichts anderes ist als eine Folge von chemischen und physikalischen Reaktionen. Doch das bedeutet nicht, dass wir auf der Ebene der Physik über Willensfreiheit reden können. Das ist nun mal ein Begriff der dort nichts verloren hat. Wir können auch niemandem erklären, wie eine Papaya schmeckt, wenn wir ihre chemischen Inhaltsstoffe sauber und gründlich aufschreiben.“ (1)

Aigner vermengt hier zunächst das Thema der Qualia mit der Frage des freien Willens; Qualia sind nicht Gegenstand der Willensfreiheitsdebatte. Diese handelt von der Vorstellung, dass der Mensch in einer konkreten Situation anders hätte handeln können, als er tatsächlich gehandelt hat. Auf dieser Annahme gründet der Schuldvorwurf.

Willensfreiheit beinhaltet jedoch nicht die Frage,  wie es sich anfühlt, der Täter einer bestimmten Straftat zu sein.

Oberflächlich betrachtet hat Aigner recht: Auf der Ebene der Physik kann man im Prinzip über nichts Menschliches Allzumenschliches mehr sprechen: Liebe, Hass, Neid, Gier, Habsucht, Freundschaft  – alle diese Konzepte sind in der Welt der vier fundamentalen Wechselwirkungen  – Elektromagnetismus, starke und schwache Wechselwirkung und Gravitation – sinnlos, man trifft sie dort schlicht nicht an. Nur beruht das Phänomen des Verliebtseins etwa nicht auf Gehirnaktivität?  Alle Empfindungen werden schließlich durch Nervenzellaktivitäten hervorgebracht und diese beruhen wiederum – wie Aigner selbst konstatiert – auf elektrischen und chemischen Prozessen und unterliegen also ausnahmslos den Gesetzen der Physik.

Und wenn alles Verhalten, ob von Mensch oder Tier, von den vier fundamentalen Gesetzen der Wechselwirkung regiert wird, dann KANN es keine Willensfreiheit, keine Freiheit von diesen physikalischen Gesetzen geben. Auf welcher Beschreibungsebene man auch immer ansetzt, ist dabei völlig gleichgültig: jede Behauptung, durch die impliziert wird, man könne in irgendeiner Weise unabhängig von diesen Gesetzen denken, fühlen oder handeln, verletzt das Standardmodell der Physik.

Im Grunde führt Aigner ein Scheinargument auf, wenn er insistiert, die Physik sei für die Frage nach dem Freien Willen schlicht nicht zuständig. Denn selbstverständlich dürfen auf keiner einzigen Beschreibungsebene Annahmen gemacht werden, die den physikalischen Grundprinzipien zuwiderlaufen; sie müssen mit diesen vereinbar sein.

Psychotiker, Epileptiker, Autisten, Tourette- Erkrankte – so unterschiedlich diese neurologisch-psychiatrischen Diagnosen auch sind, sie alle eint, dass:

1. Ihr Verhalten von dem Nichtbetroffener in erheblichem Ausmaß abweicht

2. Ihr Verhalten in früheren Zeiten entweder dem Einfluss von Dämonen, Geistern,  sonstigen übernatürlichen Wesenheiten oder aber einer individuellen Boshaftigkeit oder Bösartigkeit zugeschrieben wurde

3.. Im 20. und 21. Jahrhunderts der Nachweis eines verändertes Hirnstoffwechsels, und/oder einer abweichenden Hirnstruktur gelang und für viele Erkrankungsformen eine genetische Grundlage gefunden werden konnte.

Dieses Wissen hat zur Folge, dass heute niemand mehr Angehörigen der genannten Diagnosegruppen einen Vorwurf für ihr „schlechtes“  Verhalten macht. Psychotiker, die im Wahn eine Straftat begehen, werden in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht und nicht ins Gefängnis geschickt und von einem Tourette-Erkrankten, dessen Umfeld über die Diagnose informiert ist, erwartet niemand ein Anders-Können, dass er also in der Lage wäre, keine Schimpfworte und Beleidigungen auszusprechen.

Auf der Ebene der Teilchenphysik macht es zwar zunächst keinen Sinn, Aussagen über Epilepsie,  Schizophrenie oder Autismus zu treffen. Trotzdem wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt, dass bei diesen Erkrankungen ein physikalisch determiniertes Geschehen auf Zellebene stattfindet, ganz unabhängig davon, wieviele der beteiligten Einflussgrößen und Wirkmechanismen im Einzelnen schon bekannt sind.

In unserem Kopf gibt es ein Gefühl, das wir Willensfreiheit nennen. Das ist eine Tatsache, und diese Tatsache sollten wir anerkennen. Damit gibt es den freien Willen.“  (2)

Die Aigner-Logik heißt also: Es regiere das Prinzip:  Alles, was ich denke, fühle, ist (schon) eine „Tatsache“,  die „Anerkennung“ verdient. Wenn ich also glaube, dass mir des nachts ein Engel erschienen ist,  oder Gott sich mir in der Morgendämmerung im Stadtpark in Gestalt eines Obdachlosen offenbart hat, dann sollen alle diese Einbildungen, diese Gefühle und Hirngespinste Anerkennung verdienen?

Aus dieser Fehl-Logik kommt Aigner auch dann nicht mehr heraus, wenn er  einschränkend hinzufügt:

„Natürlich gibt es Unterschiede zwischen klügeren und weniger klugen Theorien. Wenn jemand an ein Mondkalb mit Zylinderhut glaubt, das unser Universum mit entschlossenem Huf dirigiert, dann kann ich ihn zwar nicht experimentell widerlegen, aber ich kann ihn trotzdem aus gutem Grund für verrückt halten. Man kann aber bei Diskussionen über unüberprüfbare Weltanschauungen wohl etwas großzügiger und toleranter sein als bei Fragen der Naturwissenschaft, bei denen man sehr eindeutig zwischen richtig oder falsch unterscheiden kann.“

An ein Mondkalb mit Hut zu glauben, darf im 21. Jahrhundert als nicht weniger „verrückt“ gelten, als an einen kleinen dicken Mann zu glauben, aus dessen Gesicht ein Elefantenrüssel entspringt. Dass das Mondkalb nur von sehr wenigen Menschen, der kleine dicke Mann aber von Millionen von Hindus als die Gottheit Ganesha verehrt wird, kann nicht dazu führen, dass man einem religiösen Märchen, nur aufgrund der schieren Vielzahl seiner Anhänger  mit mehr Nachsicht und Großzügigkeit ob ihrer Unüberprüfbarekeit begegnet. Beide Phantasiegestalten sind in gleicher Weise irrational.

Warum sollte man also überhaupt bei Diskussionen über unüberprüfbare Weltanschauungen großzügiger und toleranter sein? Führen die Anhänger dieser Weltanschauungen etwa ein monastisches, weltabgeschiedenes Dasein, so dass ihre unüberprüfbaren Glaubensinhalte bedeutungslos für das Leben und die Existenz der Menschheit wären? Ein kurzer Blick in den Zustand der Welt im Nahen und Mittleren Osten sollte Florian Aigner doch nachdenklich darüber stimmen, ob eine solche Großzügigkeit und Toleranz in Anbetracht von Krieg und Terrorakten im Namen einer unüberprüfbaren Religion tatsächlich die richtige Antwort sein kann.

Quelle:

(1) Florian Aigner, Der Zufall, Das Universum und Du, S. 110, Brandstädter Verlag, 2016

(2) ebd.


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