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Archiv für den Monat Mai 2021
Die „Staatsnotwendige Fiktion“ und das deutsche Strafrecht

Der Begriff der Schuld und der normative Rückgriff auf die Illusion der Willensfreiheit
Voraussetzung für die Strafbarkeit ist neben der Verwirklichung des rechtswidrigen Straftatbestandes das Vorliegen von Schuld.
Da der Gesetzgeber keine Definition der Schuld festgelegt hat, wird ein normativer Schuldbegriff zugrunde gelegt. Danach bedeutet Schuld die persönliche Vorwerfbarkeit vorsätzlichen und fahrlässigen Handelns: „Der Verhaltensvorwurf beruht auf dem Gedanken der Willensfreiheit. Vorwerfbarkeit des Verhaltens setzt voraus, dass der Täter sich anders hätte entscheiden können.“1
Für den Strafrechtler Eduard Kohlrausch handelt es sich beim Schuldvorwurf, (der auf der Willensfreiheit gründet), gar um eine „staatsnotwendige Fiktion“.
Nicht Anders Handeln Können
“ Es sei nun gar nicht näher auf die Frage der Willensfreiheit eingegangen. Ich kann mich mit der Bemerkung begnügen, daß für mein Denkvermögen ein Mensch, der unter eindeutig gegebenen äußeren und inneren Umständen genau so gut so wie anders handeln könnte, nicht ins Zuchthaus, auch nicht in eine Irrenanstalt, sondern in einen Glaskasten gehört, auf daß ihn jeder anstaune als die abnormste und unbegreiflichste Bildung, die je ein Menschenauge bisher geschaut hat. Viele Juristen können sich ein solches Menschenwesen vorstellen, ich kann es nicht und tröste mich mit sonst nicht unbedeutenden Köpfen, die es auch nicht konnten oder können.“ 2
Der Irrtum von Kohlrausch
„Aber eine solche indeterministische oder besser indifferentistische Willensfreiheit einmal vorausgesetzt: wohin führt uns jene auf ihr aufgebaute Proportion? Dahin, dass der „schlechte“ Charakter milder zu bestrafen ist, als der „gute“. Denn darüber, dass der letztere leichter anders handeln konnte, als der, der erst schlechte Neigungen zu überwinden hat, kann doch kein Zweifel sein.“ 3
Hier liegt der Irrtum Kohlrauschs: Die Absenz von Willensfreiheit bedeutet: Es gibt kein schwereres, kein leichteres Handeln, keine Differenzierungsstufen der Freiheit des Handelns, keine Freiheitsgrade des Willens, gleichgültig, ob der Handelnde einen „guten“ Charakter oder „schlechten“ Charakter aufwies, in keinem Fall konnte er anders handeln, als er gehandelt hat.