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Archiv der Kategorie: Schuldbegriff
„Eifersuchtswahn“ – BGH kassiert Freispruch des Landgerichts Saarlouis – ein richtiges Urteil, wenn auch aus den falschen Gründen
„Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags freigesprochen. Hiergegen wendet sich der Nebenkläger mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in Einklang mit der Auffassung des Generalbundesanwalts Erfolg.“
Psychotiker (Geisteskranke) Alkoholisierte / schwer Intelligenzgeminderte – das sind die Spitzen jener Eisberge, an welchen Richter erkennen, dass es mit der Steuerungsfähigkeit von – wie Sie annehmen, nur bestimmten Menschen – nicht allzu gut bestellt ist.
Was sie dabei übersehen, ist, dass kein einziger Mensch steuerungsfähig in dem Sinne ist, unter mehreren möglichen Zukünften, wählen zu können. Dies wird aber vom Gesetzgeber angenommen, siehe §20 StGB schuldunfähig ist, wer (infolge seelischer Störung etc.) unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Im Grunde geht es eigentlich um gestörte, verminderte Anpassungsfähigkeiten von Psychotikern / Alkoholisierten und Intelligenzgeminderten, die, weil sie so viel schlechter sind, im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung, der es gelingt, sich den Normen der Gesellschaft so weit anzupassen, dass sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt, in den Fokus der Justitia geraten.
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit vom versuchten Totschlag freigesprochen, da nicht auszuschließen sei, dass die Steuerungsfähigkeit des Täters während der Tatbegehung völlig aufgehoben gewesen sei.
Das Landgericht geht also davon aus, dass Menschen grundsätzlich dazu in der Lage seien, das Unrecht einer Tat einzusehen und / oder nach dieser Einsicht zu handeln, sich also gesetzeskonform zu verhalten und sich unter mehreren Zukünften die gewünschte aussuchen zu können.
Kommt es doch zu einer Tatbegehung, dann trifft den Täter keine Schuld, sofern er unter einem Wahn oder einer Psychose gehandelt hat, denn dann fehlte ihm ja die Steuerungsfähigkeit, die jeder „normale“, sich normgerecht verhaltende Mensch, besitzen soll.
Dass kein Mensch über eine solche Steuerungsfähigkeit, die einem die Wahl unter mehreren Zukünften lässt, verfügt, davon wissen die Richter offensichtlich nichts. Ein solches Wissen würde ja auch die gesamte Strafrechtsdogmatik zum Einsturz bringen.
Der BGH argumentiert, das Vorliegen von Eifersuchtswahn sei nicht wirklich geprüft worden. Als Grundlage für diese Annahme hätte man ja nur die Aussage eines Polizisten, deren Einzelheiten aber nicht vorlägen. Es könnte ja sein, dass der Täter sich eben nicht alles nur eingebildet habe, dass es also Gründe für die Eifersucht des Verurteilten gegeben haben könnte. Und dann könnte man nicht von einem Eifersuchtswahn sprechen. Der Prüfung dieser Frage hätte das Landgericht tatsächlich nachgehen müssen und ihr Unterlassen rügt der BGH.
Der Schuldbegriff kommt ohne Präzisierung aus
– meint der Strafrechtler Klaus Günther
K. Günther, Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozeßrecht, hält es für überflüssig zu definieren, was Schuld sei. Eine solche positive Begriffsbestimmung sei deshalb nicht notwendig, da man in der Strafrechtspraxis auch ohne eine solche auskomme. Es genüge zu wissen, wann Schuld auszuschließen sei, nämlich immer dann, wenn keine Ausnahmetatbestände nach 20, 21 STGB vorliegen. Das erinnert an den Ausspruch des ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof Potter Stewart, der zur Schwierigkeit der Bestimmung, was Pornographie sei und was nicht gemeint hatte : „I know it when I see it.“
Ohne Schuld – Der U-Bahntreter von Berlin
Der 28-jährige Svetoslav S., der in einem Berliner U-Bahnschacht eine 26-jährige Studentin mit einem Fußtritt die Treppe hinunterstieß, muss für drei Jahre ins Gefängnis. Dem Bulgaren wurde aufgrund einer Intelligenzminderung, einer Gehirnschädigung infolge eines Autounfalls und wegen Drogengebrauchs verminderte Schuldfähigkeit durch einen Gutachter attestiert. (FAZ, 06.07. 2017) Gesetzt den Fall, sowohl in der Rechtswissenschaft, als auch an den Gerichten hätte sich das Wissen um das Fehlen eines freien Willens durchgesetzt – wie würde die rechtliche Behandlung dieses Falles aussehen?
Wenn es keine Schuld gibt, dann kann es auch keine Schuldminderungsgründe mehr geben. Wo nichts ist, kann nichts mehr gemindert werden. In der Bewertung des Falles spielte es also keine Rolle, ob Svetoslav S. nur intelligenzgemindert wäre, ob er zusätzlich noch Drogen genommen, und/oder er den Autounfall erlebt hätte.
Würde es einen Unterschied machen, wenn man bei Svetoslav S. überdurchschnittliche Intelligenz und in der Vergangenheit ein drogenfreies Leben nachgewiesen hätte ? – Nicht, wenn der Bezugrahmen zur Straffestsetzung die Feststellung einer individuellen Schuld wäre, denn auch ein hochintelligenter Svetoslav S, der die gleiche Tat begangen hätte, hätte nicht anders handeln können, als er gehandelt hat. Ob die gleiche Tat durch ein massiv geschädigtes Hirn oder durch ein Gehirn mit nur geringfügig feststellbaren Schäden verursacht wurde ist ohne Bedeutung; in beiden Fällen liefen die neuronalen Prozesse in determinierter (evtl auch indeterminierter) Weise ab, auf deren Ergebnis der Täter in keinem Fall Einfluss nehmen konnte.
„Schuldparadoxon“ ? – hier irrt Gerhard Roth
„Solchen Tätern wird von Gerichten meist eine „besondere Schwere der Schuld“ bescheinigt. Aus der Perspektive der Hirnforschung ergibt sich hingegen ein „Schuldparadoxon“: Je verabscheuungswürdiger im Sinne des traditionellen Strafrechts, desto klarer die neurologisch-psychische Bedingtheit des Täters und der Tat.“ Gerhard Roth: Ohne Schuld keine Sühne
Mit der Annahme eines „Schuldparadoxons“ beweist Roth, dass er das von ihm selbst vertretene Konzept – ‚Willensfreiheit gibt es nicht ‚– mitunter aus dem Blick verliert bzw. unbewusst weiterhin von der Intuition eines freien Willens geprägt ist.
Denn es spielt überhaupt keine Rolle, ob „besonders abscheuliche Delikte“ mehr oder ob sie weniger mit angeborenen bzw. früh erworbenen neuralen Schädigungen zusammenhängen.
Mit dem Wegfall der Willensfreiheit kann es weder „mildernde“ noch „schulderschwerende“ Umstände geben, denn wo NICHTS – i.e. Schuld – existiert, kann auch nichts mehr gemindert oder erschwert werden.
Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 niemand in der Lage ist, eine kausal von dieser Situation unabhängige Entscheidung t>t0 zu fällen, (vgl. B. Kanitscheider), dann ist das Konzept der mildernden Umstände obsolet geworden; denn ob das Handeln zu einem überwiegenden Teil auf Umwelteinflüssen oder überwiegend auf genetischen Ursachen beruht, ist unerheblich in Bezug auf die Determiniertheit des Handelns: Der gemeine Ladendieb ist genauso unschuldig wie der brutale Mörder, denn sowohl ersterer als auch letzterer konnten zum Zeitpunkt der Tatausführung nicht anders handeln, als sie gehandelt haben.
Die Determiniertheit der verschiedenen Deliktbegehungen als Ergebnis neuronaler Aktivität, welche auf kausal wirksamen physikalisch-chemischen Gesetzen beruht, folgt somit demselben physikalischen Prinzip und richtet sich in keiner Weise nach der Schwere der kriminellen Tat.
Blogbeitrag unter Willensfreiheit, Schuld und Strafe, Spektrum.de
Der strafrechtliche Schuldbegriff
Gerhard Roth:
„Der strafrechtlichen Schuldbegriff baut auf dem metaphysischen Begriff der Willensfreiheit auf, der ein “rein geistiges” Andershandelnkönnen unter identischen physisch-psychischen Bedingungen vorsieht. Dies steht im Widerspruch zum naturwissenschaftlichen Denken und den psychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen zur Entwicklung der Persönlichkeit und Motivstruktur des Menschen.
Es wird vorgeschlagen, den Begriff der Willensfreiheit durch den im Zivilrecht vorherrschenden Begriff der “freien Willensbildung” zu ersetzen. Dieser beinhaltet die Fähigkeit, die Rahmenbedingungen und mögliche Konsequenzen eigenen Handelns hinreichend abzuwägen. Sie wird als das Ergebnis der Normalentwicklung des Gehirns und seiner kognitiven, emotionalen und exekutiven Fähigkeiten verstanden. Aus ihr leitet sich eine Verantwortlichkeit eines Menschen für sein Handeln ab.
G.Roth: Schuld und Verantwortung Die Perspektive der Hirnforschung