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Archiv der Kategorie: Strafrecht und Schuld
Der Schuldbegriff kommt ohne Präzisierung aus
– meint der Strafrechtler Klaus Günther
K. Günther, Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozeßrecht, hält es für überflüssig zu definieren, was Schuld sei. Eine solche positive Begriffsbestimmung sei deshalb nicht notwendig, da man in der Strafrechtspraxis auch ohne eine solche auskomme. Es genüge zu wissen, wann Schuld auszuschließen sei, nämlich immer dann, wenn keine Ausnahmetatbestände nach 20, 21 STGB vorliegen. Das erinnert an den Ausspruch des ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof Potter Stewart, der zur Schwierigkeit der Bestimmung, was Pornographie sei und was nicht gemeint hatte : „I know it when I see it.“
Ohne Schuld – Der U-Bahntreter von Berlin
Der 28-jährige Svetoslav S., der in einem Berliner U-Bahnschacht eine 26-jährige Studentin mit einem Fußtritt die Treppe hinunterstieß, muss für drei Jahre ins Gefängnis. Dem Bulgaren wurde aufgrund einer Intelligenzminderung, einer Gehirnschädigung infolge eines Autounfalls und wegen Drogengebrauchs verminderte Schuldfähigkeit durch einen Gutachter attestiert. (FAZ, 06.07. 2017) Gesetzt den Fall, sowohl in der Rechtswissenschaft, als auch an den Gerichten hätte sich das Wissen um das Fehlen eines freien Willens durchgesetzt – wie würde die rechtliche Behandlung dieses Falles aussehen?
Wenn es keine Schuld gibt, dann kann es auch keine Schuldminderungsgründe mehr geben. Wo nichts ist, kann nichts mehr gemindert werden. In der Bewertung des Falles spielte es also keine Rolle, ob Svetoslav S. nur intelligenzgemindert wäre, ob er zusätzlich noch Drogen genommen, und/oder er den Autounfall erlebt hätte.
Würde es einen Unterschied machen, wenn man bei Svetoslav S. überdurchschnittliche Intelligenz und in der Vergangenheit ein drogenfreies Leben nachgewiesen hätte ? – Nicht, wenn der Bezugrahmen zur Straffestsetzung die Feststellung einer individuellen Schuld wäre, denn auch ein hochintelligenter Svetoslav S, der die gleiche Tat begangen hätte, hätte nicht anders handeln können, als er gehandelt hat. Ob die gleiche Tat durch ein massiv geschädigtes Hirn oder durch ein Gehirn mit nur geringfügig feststellbaren Schäden verursacht wurde ist ohne Bedeutung; in beiden Fällen liefen die neuronalen Prozesse in determinierter (evtl auch indeterminierter) Weise ab, auf deren Ergebnis der Täter in keinem Fall Einfluss nehmen konnte.
„Schuldparadoxon“ ? – hier irrt Gerhard Roth
„Solchen Tätern wird von Gerichten meist eine „besondere Schwere der Schuld“ bescheinigt. Aus der Perspektive der Hirnforschung ergibt sich hingegen ein „Schuldparadoxon“: Je verabscheuungswürdiger im Sinne des traditionellen Strafrechts, desto klarer die neurologisch-psychische Bedingtheit des Täters und der Tat.“ Gerhard Roth: Ohne Schuld keine Sühne
Mit der Annahme eines „Schuldparadoxons“ beweist Roth, dass er das von ihm selbst vertretene Konzept – ‚Willensfreiheit gibt es nicht ‚– mitunter aus dem Blick verliert bzw. unbewusst weiterhin von der Intuition eines freien Willens geprägt ist.
Denn es spielt überhaupt keine Rolle, ob „besonders abscheuliche Delikte“ mehr oder ob sie weniger mit angeborenen bzw. früh erworbenen neuralen Schädigungen zusammenhängen.
Mit dem Wegfall der Willensfreiheit kann es weder „mildernde“ noch „schulderschwerende“ Umstände geben, denn wo NICHTS – i.e. Schuld – existiert, kann auch nichts mehr gemindert oder erschwert werden.
Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 niemand in der Lage ist, eine kausal von dieser Situation unabhängige Entscheidung t>t0 zu fällen, (vgl. B. Kanitscheider), dann ist das Konzept der mildernden Umstände obsolet geworden; denn ob das Handeln zu einem überwiegenden Teil auf Umwelteinflüssen oder überwiegend auf genetischen Ursachen beruht, ist unerheblich in Bezug auf die Determiniertheit des Handelns: Der gemeine Ladendieb ist genauso unschuldig wie der brutale Mörder, denn sowohl ersterer als auch letzterer konnten zum Zeitpunkt der Tatausführung nicht anders handeln, als sie gehandelt haben.
Die Determiniertheit der verschiedenen Deliktbegehungen als Ergebnis neuronaler Aktivität, welche auf kausal wirksamen physikalisch-chemischen Gesetzen beruht, folgt somit demselben physikalischen Prinzip und richtet sich in keiner Weise nach der Schwere der kriminellen Tat.
Blogbeitrag unter Willensfreiheit, Schuld und Strafe, Spektrum.de
Wenn es keinen Freien Willen gibt – was bleibt dann von der Moral
bzw. der moralischen Empörung?
Angenommen, das Gefühl der Empörung ließe sich auf einer Skala von 1 (niedrig) bis 10 (sehr hoch) bewerten, dann kann man davon ausgehen, dass ein Wissen in der Bevölkerung um das Fehlen eines freien Willens dazu führen könnte, dass die durchschnittlich gemessenen Werte auf der Empörungsskala von 10 auf 7 oder noch tiefer sinken würden. (mehr …)
Der strafrechtliche Schuldbegriff
Gerhard Roth:
„Der strafrechtlichen Schuldbegriff baut auf dem metaphysischen Begriff der Willensfreiheit auf, der ein “rein geistiges” Andershandelnkönnen unter identischen physisch-psychischen Bedingungen vorsieht. Dies steht im Widerspruch zum naturwissenschaftlichen Denken und den psychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen zur Entwicklung der Persönlichkeit und Motivstruktur des Menschen.
Es wird vorgeschlagen, den Begriff der Willensfreiheit durch den im Zivilrecht vorherrschenden Begriff der “freien Willensbildung” zu ersetzen. Dieser beinhaltet die Fähigkeit, die Rahmenbedingungen und mögliche Konsequenzen eigenen Handelns hinreichend abzuwägen. Sie wird als das Ergebnis der Normalentwicklung des Gehirns und seiner kognitiven, emotionalen und exekutiven Fähigkeiten verstanden. Aus ihr leitet sich eine Verantwortlichkeit eines Menschen für sein Handeln ab.
G.Roth: Schuld und Verantwortung Die Perspektive der Hirnforschung
Moralische Schuld nach Kant
Gerhard Roth:
„Problematischerweise beruhen das geltende Strafrecht und sein Schuldprinzip auf dem Kant’schen Prinzip der Willensfreiheit. Danach hatte der Straftäter trotz aller Bedingtheit durch Persönlichkeit und Umstände die Möglichkeit, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden; dass er dies nicht tat, begründet seine Schuld.
Psychologen, Hirnforscher und auch viele Strafrechtler halten diese Schuldbegründung für absurd. Wie zahlreiche, auch eigene, Untersuchungen über chronische Gewalttäter zeigen, liegen die Ursachen für deren Tun in genetischen und psychosozialen Defiziten, die der Täter gar nicht steuern konnte. Auch wenn der Täter wie jeder geistig gesunde Mensch für seine Taten verantwortlich ist, ist er doch nicht moralisch schuldig.“
Theeuropean:Gerhard Roth – Die Freiheit des Willens
KRITIK
Geistig gesund oder nicht – spielt mit der Negation eines freien Willens keine Rolle mehr.
Jeder Täter ist unschuldig im Sinne von nicht moralisch schuldig.
Jeder Täter ist in gleicher Weise für seine Tat verantwortlich wie ein geistig gesunder oder geistig unzurechnungsfähiger Mensch für seine Tat verantwortlich ist.
Der Täter hat eine (Straf)-Tat kausal verursacht.
Er war kausal verursachend, wie zB ein durchgegangenes Pferd kausal verursachend für die Verletzung eines von diesem zu Boden gerissenen Menschen sein kann.
Strafrechtliche Schuld bedeutet Vorwerfbarkeit, die Annahme also, dass der Täter auch anders hätte handeln können.
Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, gibt es für keinerlei Taten die Möglichkeit der Vorwerfbarkeit, ganz gleich, ob diese von einem geistig gesunden oder geistig kranken Täter begangen wurden.
Udo di Fabio: Verlust der Zurechnung bedeutet das Ende der freiheitlichen Ordnung
Das moderne Verfassungsverständnis jedenfalls baut in der Tiefe seiner Fundamente auf die Idee der individuellen Verantwortung. Der Verlust dieser Zurechnung wäre das Ende einer freiheitlichen Ordnung, die den freien Menschen in den Mittelpunkt stellt
Udo die Fabio, 2002
Gerhard Roth: Strafrecht und der Begriff der Willensfreiheit
„Der dem Strafrecht zugrunde liegende (…) Begriff der Willensfreiheit schreibt dem Menschen die Fähigkeit zu, sich in seinen Entscheidungen über die Grenzen des naturgesetzlichen Geschehens hinweg zu setzen.
Eine solche Zuschreibung widerspricht jedoch gegenwärtigen psychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen über die Steuerung menschlichen Verhaltens.
Dabei ist es irrelevant, ob Vorgänge in unserem Gehirn streng deterministisch ablaufen oder zumindest auf unterer Ebene indeterministisch bzw. chaotisch-deterministisch ablaufen.“
Roth, Verantwortung, Determinismus und Indeterminismus