Bernulf Kanitscheider:
Damit ist es auch vereinbar, dass das Gehirn eine Selbstreflexion beginnt, die die Entscheidung in vielfacher Weise abwägt und gegebenenfalls auf die Auslösung der Handlung verzichtet.
Auch diese Metareflexion ist kein Vorgang, der über der neurologischen Architektur schwebt, sondern wurde durch Sozialisierung und Erziehung dispositionell in die neuronale Verschaltung eingearbeitet. Das bedächtige Abwägen von Handlungsalternativen und die Fähigkeit, über logische Folgerungsketten die Langzeitkonsequenzen von Taten oder Untaten zu erkennen, ist eine Leistung des Gehirns, das dieses durch Training, Vorbild, Anreiz erarbeitet hat.
Wer das Unglück hatte, dass seine Steuerungsorgane in der sensitiven Prägephase so ungünstig geformt wurden, dass ihm kein sozial angepasstes Verhalten möglich ist, ist zu bedauern. Gegebenenfalls muss man ihn, um Schaden von seiner Mitwelt abzuwenden, isolieren, aber es gibt keinen Grund, ihn von der arroganten Position derjenigen aus zu diskriminieren, die das Glück hatten, eine sozialverträgliche Programmierung ihres zentralen Rechners mitzubekommen. Unter naturalistischer Perspektive verlöre kompatibilistische Freiheit viel vom Pathos der moralischen Entrüstung und der Abqualifizierung jener bedauernswerten Personen, die ein ungünstige zerebrale Ausgangslage dazu gebracht hat, ihren Mitmenschen zu schaden.
Bernulf Kanitscheider, Was können wir tun? aus: „Freier Wille – frommer Wunsch?“, S.132f