Die funktionelle Architektur des menschlichen Gehirns wird durch drei ineinander übergreifende Prozesse bestimmt :
1. Evolution– Die ererbte genetische Anlage legt die Grundverschaltung fest und verankert auf diese Weise Wahrnehmungsverschaltung und Verhaltensroutinen, die sich im Laufe der Evolution durch Anpassung und Selektion ausgebildet haben. In diesen genetische Strukturen ist also bereits Wissen über die Welt niedergelegt.
2. Wird die Architektur menschlicher Gehirne während eines langen Entwicklungsprozesses nachhaltig von Umweltprozessen geprägt
3. Verschaltungen werden durch lebenslanges Lernen weiter verändert. Letzteres beruht ebenfalls auf Änderungen der funktionellen Architektur des Gehirns“
Der Ausschnitt der Welt – Über die Limitierung unserer Erkenntnismöglichkeiten
„Wir können natürlich nur erkennen, erdenken und uns vorstellen, was die kognitiven Funktionen unseres Gehirns uns zu erfassen erlauben. … Diese Leistungen sind mit ganz großer Wahrscheinlichkeit sehr eingeschränkt. Das Gehirn hat sich, wie alle anderen Organe und wie der Organismus als Ganzes, im Lauf der Evolution an die Bedingungen der vorgefundenen Welt angepasst, nicht anders als die Fischflosse an Eigenschaften des Wassers. Diese Anpassungen erfolgten an jenen Bereich der Welt, in dem sich Leben entwickeln konnte. Und dies ist ein extrem schmaler Ausschnitt des uns bis jetzt bekannten Universums. Leben hat sich in einer Dimension entwickelt, die sich von Mikrometern – der Raum der Bakterien – bis zu einigen Metern erstreckt. Das ist der Ausschnitt der Welt, der für das Überleben relevant ist. In diesem Segment sind ganz bestimmt Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten prävalent. Es ist der Bereich solider Objekte und abgegrenzter Gegenstände. In der Quantenwelt und der kosmischen Dimension herrschen gänzlich andere Bedingungen. „
Über das implizite Vorwissen
„Wir schreiben der Welt bestimmte Qualitäten zu, teilen sie ein in eine Welt des Lichts, der Klänge, ertastbarer Objekte, fühlbarer Temperaturen usw. Diese Trennungen sind willkürlich und entsprechen unserer Ausstattung mit bestimmten Rezeptoren. Die molekulare Festlegung von Lernregeln erlaubt uns, Ursachen und Wirkungen zu erkennen und zu verknüpfen. Gestaltprinzipien geben vor, wie wir Objekte definieren – eine Definition, die in der Quantenwelt keine Entsprechung hat. All dies Vorwissen ist notwendige Voraussetzung für jedwede Wahrnehmung, aber es ist meist implizit. Wir wissen nicht, dass wir es haben, weil wir nicht dabei waren, als es erworben wurde, und deshalb gehen wir davon aus, dass unsere Wahrnehmungen direkt und absolut sind. Aber tatsächlich handelt es sich um das Ergebnis von Interpretationen und komplizierten Inferenzen – es sind Zuschreibungen.“ [1]
In unserer Welt ist es sinnvoll, Gestaltmerkmale von Objekten zu definieren und Raum und Zeit kategorial zu trennen – eine Trennung, die sich auf kosmische Prozesse nicht übertragen lässt.
Das alles weist darauf hin, dass wir kognitive Leistungen entwickelt haben, die nur für die Erfassung der Variablen ausgelegt sind, die Bedeutung für das Überleben haben. Diese Variablen sind nicht notwendig dieselben wie die, die bewertet werden müssten. um, falls es sie gibt – absolute Wahrheiten im Kant’schen Sinne erfassen zu können.
Es kann also sein, dass die Art, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir schlussfolgern, Ursachen und Wirkungen miteinander verknüpfen, ein Spezialfall ist, der in der Welt, in der wir uns entwickelt haben, gute Dienste erweist, aber nur begrenzt verallgemeinerbar ist. [2]
Die konstruktivistische Natur der Wahrnehmung
Auf der Netzhaut des Auges wirkt lediglich eine zweidimensionale Verteilung von elektromagnetischen Wellen ein, die sich in Intensität und Wellenlänge unterscheiden. (…) Zudem ist das Auge nur für einen winzigen Bereich des Spektrums von elektromagnetischen Wellen empfindlich. – wir sind deshalb blind für Radiowellen und Wärmestrahlung.
Auf der Netzhaut findet sich also lediglich eine kontinuierliche Verteilung von Strahlung und das Gehirn konstruiert daraus den Reichtum der visuell wahrnehmbaren Welt. Es muss dieses Kontinuum gestalten, herausfinden, welche Wellenmuster bestimmten Objekten entsprechen, welche vom Hintergrund herrühren und so weiter. Damit das Gehirn diese Syntheseleistung vollbringen kann, muss es Vorwissen über die wahrscheinliche Beschaffenheit der Welt besitzen.
Ein großer Teil unseres Vorwissens wurde im Laufe der Evolution in unsere Gehirne eingeprägt, weshalb wir einen erheblichen Teil dieses Wissens mit anderen Tieren gemeinsam haben. Sie nehmen die Welt ähnlich wahr wie wir und erliegen deshalb den gleichen Täuschungen. [3]
[1] Wolf Singer: In unserem Kopf geht es anders zu, als es uns scheint, in: Helmut Fink, Rainer Rosenzweig (Hg): Bewusstsein Selbst Ich. Die Hirnforschung und das Subjektive, mentis Verlag, S. 18ff
[2] ebd. S. 19ff
[3] ebd.S. 20f.